Semiotik der Seine nach dem Erforschen der (ersten) Hard-Facts

Nachdem ich mich nun intensiv mit den Brücken, Kais sowie den noch existierenden und ehemaligen Inseln historisch beschäftigt habe, ist es nun, so glaube ich an der Zeit, mit all dem Wissen nun die eigentliche Bedeutung des Flusses durch die Französische Hauptstadt zu ergründen.
Wie zu Beginn des Forschungsseminars vor vier Monaten, sitze ich wieder vor dem Stadtplan und kann diesen nun in ganz anderer Weise wahrnehmen und verstehen. In einem meiner ersten Blogeinträge fiel mir bereits auf, dass das historische Zentrum der Stadt im, sowie links und rechts des Flusses geschaffen wurde und sich dort erfolgreich entwickelt hat. Das geistliche Zentrum der Kathedrale Notre-Dame auf der Ile-de-la-Cité sitzt gewissermaßen „im“ Fluss, und stellt stellvertretend für Gott das absolute Zentrum dar. So könnte man den ehemals ersten Stand auch architektonisch verkörpern. Die Kirche (sowohl im architektonischen wie gesellschaftlichen Sinne) stellt den Nabel Paris’ dar, welches wiederum den Nabel Frankreichs darstellt. [Kühn könnte man als patriotischer Franzose nun auch das Vaterland als Nabel der Welt darstellen, obwohl dies sicherlich nicht auf ungeteilten Zuspruch treffen würde ] Vom nun schon oft beschriebenen Hochwasserschutz über die Sicherheit vor barbarischen Einfällen bildete diese Ile-de-la-Cité einen Hort des Schutzes und der Sicherheit. Gleichzeitig aber stellte sie auch eben den Kreuzungspunkt zweier außerordentlichen Wege dar (der Seine als Ost-West Achse, Nord-Süd-Verbindung durch Verkehrslinie) Somit kommt sofort der Faktor Flussübergang, also Brücke ins Spiel. Hier wurde aus der Not die Tugend, die Geschichte der Brücken ist ganz Eng mit dem Wachsen und Gedeihen der Stadt verbunden. Von Anfang an ist die Sprache von den zwei Brücken, dem Pont Grand und dem Pont Petit sowie deren stete technische Verbesserung. Somit steht die Brücke als Verbindendes Element zwischen Nord und Süd, sowohl Paris’ als auch Frankreichs.
(Während in Wien die Bedeutung einer Brücke erst relativ spät erkannt wurde, gegen Ende des Mittelalters, was zum wirtschaftlichen Erfolgs der Stadt Tulln beitrug, die bereits relativ früh eine Donauüberquerung hatte, war die Situation in Paris ein vollkommen andere.)
Die ersten nicht-insularen Besiedlungen erfolgten am Rive-Gauche, denn den Vorteil des Verkehrsweges Seine wollte man anscheinend nicht missen. Dass sich an den Ufern der Seine eine der ersten Hochschulen Europas entwickelte, zeigt abermals auf die geographische Bedeutung dieses Flusses. In den Quellen wird die Bedeutung als „Lebensader“ der Stadt Paris beschrieben, denn nur über das Wasser konnte die prosperierende Stadt effektiv versorgt werden. Die Anlegung von Ports (Häfen und Länden), die heute allesamt nicht mehr erhalten sind, und die Ausrichtung zu diesen bestätigt die These der Lebensader.
Doch auch der Louvre als Sitz des Königs und architektonisch als Zentrum der weltlichen Macht sitzt nicht irgendwo im überschwemmungsfreien Hinterland, nein, direkt am Ufer als sichtbares Zeichen steht dieser überdimensionale Prunkbau, der seinesgleichen sucht. Es ist wiederum die Achse des Flusses, der den weiteren Ausbau der Stadt beeinflusst und sogar vorgibt. Eigentlich verwunderlich, dass Richelieu „seinen“ Palais Royal nicht ans Ufer setzte. Doch hatte er schlicht keinen anderen Platz mehr, um die Determinante „Nähe zum Louvre“ als äußeres Zeichen zu nutzen.
(Anders als in Wien, wo der Sitz des Kaisers die Hofburg darstellte, die weder am heutigen Donaukanal als auch am Wienfluss, geschweige denn an der Donau liegt)
Auch das Hôtel-de-Ville etwas stromaufwärts des Louvre, auf Höhe der Kathedrale Notre-Dame, als Sitz des Oberhauptes der Hauptstadt, ziert das Ufer der Seine. Man kann hier eine Verdichtung der Macht an einer Linie erkennen, aufgereiht wie die Perlen an einem Faden oder einer Kette.
Auch der stetige Aus- und Weiterbau entspricht der von der Seine vorgegebenen Achse, gefolgt vom Jardin des Tuileries zum (abgebrannten) Tuilerien- Schloss. Der zwischen Rue de Rivoli (ebenfalls parallel zur Seine verlaufend) und Seine liegende Place de la Concorde als einer der zentralsten Orte der Französischen Revolution lässt sich wie eine weitere Perle auf der „Kette“ anreihen.
Das wohl bekannteste Wahrzeichen, als größtes Überbleibsel einer der Pariser Weltausstellungen, ist der Eiffelturm. Als Teil im Areal der Weltausstellung, sozusagen als Schaufenster für die gesamte Welt, ist dieses Gebiet direkt an die Ufer der Seine angepasst.

Als kleine Abweichung, viel zu schwach um es als Ausbruch zu bezeichnen, kann man den Champs-Elysées bezeichnen. Als Verlängerung der traditionellen Königsachse, die sich an die Ufer der Seine drängt, ist hier eine Abweichung zu erkennen. Die zum Arc de Triomphe Etoile führende Prachtstraße Ludwig XIV setzt sich als geometrische Verlängerung dieser Geraden, die an den Flussabschnitt angelegt ist, fort. Doch selbst der futuristisch angehauchte Stadtteil La Defense steht abermals am Kreuzungspunkt zwischen der Seine, die in ihrer mäandrierenden Eigenschaft hier nord- südlich verläuft, und der so genannten Königsachse. Doch ist es abermals so, dass die Ufer der Seine einen klaren Anziehungspunkt ausüben.
Um den Kreis noch zu schließen, sei noch zu erwähnen, dass das Finanzministerium ebenfalls an und teils in der Seine seine geographische Bestimmung gefunden hat. Süd-östlich und stromaufwärts der Ile Saint-Louis ist der längliche Bau im rechten Winkel zur Flussrichtung am rechten Ufer angesiedelt. Doch wie eine Hälfte einer Brücke steht es über dem Fluß, um mit einem im Wasser stehenden Sockel zu enden. Da einem Finanzministerium sicherlich auch die Bedeutung der Macht zukommt, zeigt es abermals darauf hin, dass die Linie des Flusses diese auf sich vereinigt.
Allerdings fällt die natürliche Grenze der Seine eigentlich nicht wirklich als Barriere auf. Im Gegensatz zu Wien, das über fünf Straßen-Donaubrücken verfügt, legen sich in Paris weit mehr als 30 Brücken über die Wasserstraße. Heute ist die Seine in ein Korsett aus Stein und Beton gezwängt, der Höhenunterschied zum Pariser Niveau ist beträchtlich. Schätzungsweise 8 Meter, in denen die Seine zwischen Hoch- und Niederwasser schwanken kann, ohne bauliche Zerstörungen vorzunehmen. Die Brücken sind ebenfalls am selben Niveau wie das Terrain rund um den Fluss, sodass ein überqueren des Flusses oftmals nur dadurch auffällt, dass man, im Vergleich zur Donau bei Wien, links und rechts ein Rinnsal erblickt.
Selbst die Namen der Brücken passen sich insofern an die Tradition in Paris an, als dass ihre Benennung genauso der Veränderung unterworfen war wie die der Straßen. Zwischen Zeichen von Weltpolitischer Bedeutung (Pont Alexander III) über die geographische Nähe zu bedeutenden Bauten (Pont des Invalides, Pont de la Concorde) zur französischen Identität (Pont Charles de Gaulle, Pont St. Louis) bis hin zu Anekdoten (Pont au Double) reichen die Kreativitäten und Zufälle.
So kann die Seine sicherlich als Achse der Macht und der Bedeutung gesehen werden, denn als Baumeisterin und Grundstruktur in der Entstehung und Entwicklung der „Hauptstadt Europas“ kann ihr im wahrsten Sinne des Wortes niemand das Wasser reichen.

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